Freitag, Februar 02, 2007

behindert

In meinem anderen Blog hatte ich es gerade noch so geschafft, meinen "soziale Gerechtigkeit"-Post noch im Januar zu schreiben. Hier ist es etwas später geworden. Ich habe es versprochen, also schreibe ich. Als Kind und Jugendliche habe ich eigentlich nie Behinderte gesehen. Die Einzige, die ich kannte, war meine Cousine. Sie hatte ein Loch im Herzen und als sie deswegen operiert werden sollte, stellte man fest, dass alle Adern falsch angebracht waren und dass sie es offen lassen mussten. Sie hatte immer einen ziemlich bläulichen Hautton und ihr linker Arm war gelähmt. Wir haben uns nur selten getroffen, sie war etwa fünf Jahre älter als ich und nur in einem Jahr haben wir uns besucht und unterhalten. Ich habe nie verstanden, warum meine Mutter immer geflüstert hat, wenn sie von ihr sprach. Für mich war sie einfach meine Cousine. Anders ja, aber das ist ja jeder, irgendwie. Niemand erzählte mir, dass ihre Tage von Anfang an gezählt erschienen. Als sie mit 30 starb, hatte sie weitaus länger gelebt als erwartet.

Davon abgesehen war ich eine von diesen Leuten, die sich von Rollstuhlfahrern in der U-Bahn abwenden und denken: "Ich hoffe, er fragt mich nicht, ich hoffe, er fragt mich nicht." Und dann war ich nach meinem allerletzten Bürojob arbeitslos, wusste, dass ich in so einer Umgebung nie wieder arbeiten würden und suchte eine Arbeit in meinem Fachbereich. Ich war so verzweifelt, dass ich sogar in Erwägung zog, zu unterrichten. Im Nachhinein kann ich sagen, dass war das Beste, das ich tun konnte, aber damals erschien es mir beängstigend. Eine Freundin arbeitete als Musiklehrerin in einer privaten Real- und Fachoberschule. Sie wurde schwanger und suchte jemanden als Vertretung für ihren Erziehungsurlaub. Ich brauchte dringend Arbeit, aber unterrichten? In einer Schule? Und in einer Privatschule mit 60% körperbehinderten Schülern? "Was soll ich denn machen?" fragte ich, "Ich weiß doch gar nicht, wie ich ihnen helfen kann. Ich habe noch nie etwas mit behinderten Leuten zu tun gehabt." Sie sagte, ich solle mir keine Gedanken machen. Diese Leute sind sehr daran gewöhnt, anderen zu sagen, wie sie helfen können. Das machen sie die ganze Zeit.

Es ist eine sehr kleine Schule, nur 14 Schüler pro Klasse. Und ich unterrichtete dort Musik und fand heraus, dass ich zwar gerne Musik unterrichte, aber leider nicht mehr in einem hierarchischen System arbeiten kann. Einige der Schüler mochte ich und andere nicht. Es ist eine hervorragende Schule. Es gibt dort Helfer für die Schüler, die Dinge wie essen, Aufs Klo gehen oder schreiben nicht alleine können. Wir hatten Schüler mit den verschiedensten Behinderungen aus dem ganzen Land. Plötzlich merkte ich, dass sogar Deutschland, in dem alles gesetzlich geregelt ist und es überall Rampen gibt, nicht so freundlich ist, wie ich angenommen hatte.

Das tägliche Zusammensein mit Menschen mit Muskeldystrophie, spastischen Lähmungen, Querschnittslähmung, Glasknochen, Spina bifida und allem möglichen veränderte meine Einstellung ein wenig. Als ich das erste Mal hörte, wie eine Lehrerkollegin sagte: "Oh, er ist nur querschnittsgelähmt, er kann alles alleine machen." war ich ein bisschen sprachlose. Aber verglichen mit anderen... Wenn ich heutzutage jemanden mit einem Rollstuhl in der U-Bahn treffe, kann ich sehen, ob er ein querschnittsgelähmter Basketballspieler in einem Sportrollstuhl ist, der seinen Rollstuhl problemlos die Rolltreppe hinauf manövrieren kann und wahrscheinlich stärker ist als ich, oder ob es sich um jemanden handelt, der gerne ein bisschen Hilfe beim Drücken des Türöffners hätte.

Und ich fand heraus dass, behindert oder nicht, wir alle nur Menschen sind. Nicht zu wissen, wie man helfen kann, ist keine Entschuldigung dafür, wegzusehen. Wenn ihr behindert wäret, zum Beispiel den Fuß gebrochen hättet und auf Krücken gehen müsstet oder beide Füße gebrochen hättet und im Rollstuhl sitzen müsstet, fändet ihr es dann in Ordnung, wenn alle wegschauen, weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen, wenn sie helfen? Fändet ihr es in Ordnung, wenn die Leute an euch vorbeirennen und nicht helfen, den Rollstuhl aus der U-Bahn zu bekommen? Würdet ihr immer zu Hause bleiben, weil ihr nicht Auto fahren oder einen Einkaufswagen schieben könntet?

Es wird zu diesem Thema noch einen zweiten Teil geben, weil ich wieder mal unter Zeitdruck stehe, aber für heute habe ich eine Aufgabe für euch: wenn ihr heute unterwegs seid, versucht Leute zu finden, die etwas Hilfe brauchen. Und wenn sie keine Hilfe brauchen, schaut sie an, lächelt und behandelt die Anderen wie gleichwertige menschliche Wesen.

Danke. Ende der heutigen Predigt.

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